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Der Corona-Lockdown ist zu einer Macht in Deutschland geworden. Das konnte nur geschehen, weil die Verfassung als Ganzes ihre Macht eingebüßt hat.

Dekonstruktion des Grundgesetzes

11. Mai 2021

Es ist keine Übertreibung, wenn man sagt, dass sich im Deutschland des Jahres 2021 grundlegende politische Zweifel festgesetzt haben. Die normativen Grundlagen unseres Staatswesens und unseres Landes insgesamt sind zweifelhaft geworden. Wie tief die Zweifel sind, zeigt sich im rapiden Vertrauensverlust der CDU/CSU und der Zunahme der Nicht-Wähler. Etwas Vergleichbares hat es in der Geschichte der Bundesrepublik nicht gegeben, und es ist ein Indiz dafür, wie sehr die sicher geglaubten Ankerpunkte des Landes ihre Festigkeit verloren haben. In der Corona-Krise wurden drastische Maßnahmen mit immensen wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Folgen quasi beiläufig getroffen. Entscheidungen, die als „historisch“ bezeichnet wurden, sind im Modus „Steuern auf Sicht“ erfolgt, ohne dass sich die Institutionen, die unser Grundgesetz vorsieht, damit gründlich und eigenständig befassen konnten. So ist die Corona-Krise zu einer Normen-Krise geworden. Verfassungsnormen, die bisher wie selbstverständlich die Arbeit von Bürgern, von Wirtschaftsbetrieben, von staatlichen Infrastrukturen und Kultureinrichtungen bestimmten und ihren Handlungsraum offenhielten, wurden außer Kraft gesetzt – und dieser Eingriff erfolgte im Rahmen von Infektionsschutz-Gesetzen, also in einer kleinen Unterabteilung unserer Rechtsordnung. So mussten die Bürger die Erfahrung machen, dass ihr Land in einen Ausnahmezustand versetzt werden konnte, ohne dass die Ausnahme als solche gekennzeichnet und begrenzt wurde. Weil es gar keine Unterscheidung zwischen „Ausnahme“ und „Norm“ gab, war gar nicht sichergestellt, dass die Ausnahme eine Ausnahme war. Und tatsächlich dauerte sie immer länger und es fanden sich immer neue Infektions-Gründe, sie zu verlängern. In der Corona-Krise machten die Bürger also die Erfahrung, wie wenig die fundamentalen Normen ihres Landes zählten und wie leicht es war, sie außer Kraft zu setzen. Es musste nur eine Dringlichkeit ins Feld geführt werden, und schon zählte die Gesamtheit der Lebensgrundlagen des Landes nicht mehr. Und damit wurde auch das Gebot der Verhältnismäßigkeit von politischen Eingriffen außer Kraft gesetzt. Denn man versuchte gar nicht ernsthaft, die Größe „Lebensgrundlagen des Landes“ zu bestimmen. Das, was eigentlich das wahre Gegengewicht zum Lockdown hätte sein können und müssen, lag gar nicht in der Waagschale. Deshalb ist es eine sehr vernünftige Reaktion der Bürger, dass sie der Partei, die lange Zeit die Kontinuität der Bundesrepublik vertrat und dazu jetzt nicht mehr fähig scheint, das Vertrauen entziehen.

Verkürzungen des Grundgesetzes

Nun liegt die Corona-Politik zur Prüfung beim Bundesverfassungsgericht (BVG). Endlich, möchte man sagen, denn es ist schon erstaunlich, dass mehr als ein Jahr ins Land gehen musste, bevor dies Gericht eingeschaltet wurde. Aber besser spät als nie. In der staatlichen Ordnung der Bundesrepublik ist dies Gericht die Instanz, welche die Entscheidungen von Exekutive und Legislative am Maßstab des Grundgesetzes zu prüfen hat. Es müsste also mit besonders kritischem Auge hinsehen, wenn im Namen einer Dringlichkeit – de facto – ein Ausnahmezustand herbeigeführt wird. Das setzt allerdings voraus, dass im Lande ein klares und unverkürztes Verständnis unserer freiheitlich-demokratische Rechtsordnung vorhanden ist. Dass es also im Bewusstsein des Bundesverfassungsgerichts und im öffentlichen Bewusstsein der Bundesrepublik ein klares und unverkürztes Gesamtbild des deutschen Grundgesetzes gibt. Und genau hier liegt der wunde Punkt, der zu einer großen Wunde unseres Landes zu werden droht.
Denn im Selbstbewusstsein unserer Republik und auch in den Urteilen höchster Gerichte kann man Verkürzungen des Grundgesetzes feststellen. Sie bestehen, grob gesagt, darin, dass das Grundgesetz nicht als unteilbare Gesamtheit gesehen wird, sondern als eine Sammlung einzelner „Grundrechte“ – und diese wiederum als „Menschenrechte“. Das bedeutet, dass es nur noch kleine, subjektive Rechtsträger gibt. Ihre Freiheiten scheinen keine objektive Welt zu brauchen – keine Sachanlagen, keine Wissensbestände, keine Betriebe, keine flächendeckenden Infrastrukturen und kulturellen Einrichtungen, auch keine längeren, Generationen übergreifenden Entwicklungsprozesse. Und entsprechend auch keine stabilen, individuellen und gemeinschaftlichen Eigentumsrechte. Mit anderen Worten: Es findet eine Dekonstruktion unseres Grundgesetzes statt, eine Fragmentierung in kleinste, realitätsuntüchtige Elementarteilchen. So wird es zu einem „Grundgesetz ohne Land“.

„Lebensschutz“ als höchstes Rechtsgut?

Der ehemalige Verfassungsrichter Udo di Fabio hat vor gut einem Jahr in einem Beitrag für die „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ („An den Grenzen der Verfassung“, 6.4.2020) geschrieben, dass die Corona-Krise nicht nur medizinische Versorgungssysteme an Grenzen führt, sondern auch das Verfassungsrecht. Er bezieht sich dabei auf Situationen, in denen die Knappheit der intensivmedizinischen Mittel dazu führt, das Entscheidungen getroffen werden müssen, wer diese Mittel bekommt und wer nicht. Er schreibt, dass „…unsere politische und rechtliche Ordnung darauf programmiert ist, das Entscheidungsdilemma der Selektion, das meint `Triagieren´, so weit zu verhindern, wie es irgend geht. Man kann sogar die ganze Identität, das Besondere unserer Republik so verstehen, dass wir prospektiv und vorsorgend alles tun, die Zwänge der Not und des blanken Elends, die banale Logik der Katastrophen und der Kriege gar nicht erst entstehen zu lassen, um die freiheitliche Wertordnung nicht zu gefährden.“ Das sind Sätze von großer Tragweite. Hier wird die Aufgabe, bestimmte Notlagen „gar nicht erst entstehen zu lassen“, gewissermaßen zum Verfassungskern der Bundesrepublik erklärt. Und damit wird plötzlich die Integrität des Grundgesetzes zur Disposition gestellt. Wenn man sich das in Ruhe vor Augen führt, ist es eine verheerende Aussage – und es erstaunt, mit welcher Beiläufigkeit sie formuliert wird. Die Leichtigkeit, mit der an so einer Stelle eine Dekonstruktion des Grundgesetzes erfolgen kann, beunruhigt.

Der Lockdown ist ein Enteignungsprogramm

In einem modernen Land sind alle Aktivitäten mit einem hohen Aufwand an Sachmitteln und Sachanlagen verbunden. Sie sind hochkapitalisiert. Ebenso ist der Staat ein Anlagen- und Infrastrukturstaat, und entsprechend „anstaltsmäßig“ (Max Weber) organisiert. Auch die gesellschaftliche Kommunikation und Bildung erfolgt vor dem Hintergrund großer Wissens- und Kulturbestände. Wenn in Wirtschaft, Staat oder Kultur eine längere Stilllegung erfolgt, oder wenn gar ein ständiger Stilllegungs-Vorbehalt (wie in Gestalt der „Bundes-Notbremse“) installiert wird, sind die Verluste so groß, dass sie nicht mehr aufgeholt werden können. Ein dauernder Substanzverlust tritt ein. Die Schulden werden so hoch, dass es kein realistisches Szenario mehr gibt, um da wieder herauszukommen. So erscheint jetzt am Horizont der Corona-Krise das Gespenst eines Zivilisationsbruchs.
Aber dieser Bruch kann gar nicht adäquat wahrgenommen werden, wenn man nur auf „den Menschen“ guckt und ihn sich eigentumslos – quasi „nackt“ – vorstellt. Dann wird der normative Horizont völlig verkürzt, und der Lebensschutz kann tatsächlich zum höchsten Rechtsgut werden. Schon in der öffentlichen Wahrnehmung der Krise macht es einen großen Unterschied, ob man Passanten befragt, die oft nur etwas sagen, was nach „Freizeit“ klingt. Wenn man hingegen die Hoteliers oder Köche in ihren brachliegenden Betrieben oder Arbeitsstätten befragt, wird ein ganz anderer Ernst der Lage deutlich. Ebenso, wenn man Ladenbesitzer sieht, die auf leere Bürgersteige vor ihrem Geschäft blicken; oder wenn man Busfahrern zuhört, die einem erklären, dass sie bei den Abstandsgeboten allenfalls 20% der sonst üblichen Fahrgastzahlen unterbringen können. Oder wenn Lehrer vor leeren Schulbänken und Theaterleute vor leeren Rängen vom Lockdown sprechen. Dann wird das wahre Ausmaß der pauschalen Stilllegungen und Schließungen deutlich. Schaut man hingegen nur mit dem Maßstab der Menschenrechte hin, kann der Enteignungscharakter des Lockdowns gar nicht sichtbar werden. Seine verheerende Wirkung im Land wird völlig unterschätzt.

Eine Verfassung ist nur als Gesamtkonstruktion wirksam

Die tiefere Gefahr, die jeder größeren Krise innewohnt, besteht darin, dass der Blick nur noch auf das Vordringliche gelenkt wird – dass also der Blick verengt und verkürzt wird. Und dass dann alle Mittel auf diese Aufgabe geworfen werden, und alles andere bereitwillig dem Vordringlichen geopfert wird. So kann dann eine mittelschwere Krise ein ganzes Land mit sich reißen. Die Bedeutung einer Verfassung liegt darin, dass sie dieser Gefahr des Mitgerissen-Werdens entgegenwirkt. Sie verkörpert die Kontinuität im Wandel. Gewiss muss sie das Land offen halten für den Wandel, aber sie macht das nie bedingungslos. Die Kontinuität der Bedingungen ist ihr entscheidendes Wesensmerkmal. Dies Merkmal unterscheidet sie von einem politischen Programm. Unser Grundgesetz ist also kein „ehrgeiziges Programm“. Es hat nicht die Leichtigkeit, um in der dünnen Luft „hoher Ziele“ herumzufliegen. So kann es auch kein „Fahrplan“ zu diesen Zielen sein. Es ist darauf angelegt, die Bedingungen einer dauerhaften Freiheit zu sichern. Diese Aufgabe löst eine Verfassung nicht durch einzelne Artikel, sondern durch ihre Gesamtkonstruktion. Als bloße Sammlung einzelner Rechte wäre sie dem Mitgerissen-Werden hilflos ausgesetzt. Eine Verfassung ist unteilbar und diese Integrität muss ständig gewahrt werden. In diesem Sinn braucht man einen konstruktiven Umgang mit der Verfassung, Jede Dekonstruktion zerstört ihren Wesenskern und ihre normative Kraft.

Eigentumsrechte und Eigentumssphären

Damit eine Verfassung Bedingungen setzen kann, ist das Eigentumsprinzip hier eine ganz wesentliches Bauprinzip. Es betrifft keineswegs nur das individuelle Privateigentum, sondern auch das gemeinschaftliche Eigentum an öffentlichen Infrastrukturen (Verkehr, Energie…) und Einrichtungen (Sozialversicherungen, Bildungs- und Forschungseinrichtungen, Kultureinrichtungen, Sportstätten…). Eine Verfassung schirmt auch unterschiedliche Eigentumssphären voneinander ab – zum Beispiel die Sphären der Wissenschaft, der Kunst, der Religion, der Medien. Sie sichert die Autonomie dieser Sphären, aber verlangt im Gegenzug auch deren Treue zur Gesamtheit der Verfassung. In Konstruktion des Staates unterscheidet sie Gesetzgebung, Rechtsprechung, Exekutive ebenso wie Bundesebene, Länderebene und kommunale Ebene mit je spezifischen Zuständigkeiten. Darin erkennt sie die Tatsache an, dass die äußere Realität zu komplex ist, um nur zentral oder nur dezentral erschlossen zu werden. Aber auch einen gemeinschaftlichen Realitätszwang enthält die Verfassung: das Haushaltsrecht des Parlaments, das alle hochfliegenden Ziele unter den Vorbehalt der Finanzierbarkeit stellt. Dies Recht heißt nicht von ungefähr das „Königsrecht“ der parlamentarischen Demokratie.
Diese sehr kurze Übersicht zeigt, wie wichtig es ist, die Rechtsordnung der Verfassung von Einzelrechts-Katalogen – wie zum Beispiel einer Charta von Menschenrechten – zu unterscheiden. Jede größere Krise ist hier eine Bewährungsprobe: Gelingt es, die Integrität und Kontinuität der Verfassung gegen den Verkürzungsdruck durch Krisennöte zu behaupten?

Die Krise als Prüfstein

Jetzt, in der Corona-Krise, stehen wir mitten in diesem Verkürzungsdruck. Denn unüberhörbar wird jetzt das Leben der Menschen als „höchstes Gut“ beschworen, dass keine Abwägung mit anderen Rechtsgütern zulässt. Gegen diejenigen, die abwägen wollen und Rettungsmaßnahmen begrenzen wollen, wird die Anklage der Unmenschlichkeit erhoben. Die Bundeskanzlerin hat das gerade erst wieder getan, indem sie in Vorbereitung der „Bundesnotbremse“ im Bundestag folgenden Satz sprach: „Die Intensivmediziner senden einen Hilferuf nach dem anderen – wer sind wir denn, wenn wir diese Notrufe überhören würden?“ Natürlich gibt es niemand, der diese Rufe überhören will. Es geht darum, ihnen nur begrenzt Folge zu leisten – im Namen der Bedingungen, die das Grundgesetz als normativen Gesamtrahmen für Deutschland festlegt. Es wäre also die Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, in einem Urteil der gefährlichen Macht des Vordringlichen Grenzen zu ziehen und die Vollständigkeit der Abwägung sicherzustellen.

Die Bezugnahme auf das Grundgesetz erneuern

Im Frühjahr 2020, als der Verfassungsrichter di Fabio seine oben zitierten Aussagen machte, stand die deutsche Öffentlichkeit unter dem Eindruck eines noch weitgehend unbekannten Virus. Man sah die Bergamo-Bilder mit Lastwagen voller Särge. Inzwischen haben sich die Gewichte verschoben. Die Menschen haben die Erfahrung gemacht, dass manche Gefahren krass überzeichnet wurden. Manche Horror-Prophezeiungen erwiesen sich als falsch. Gleichzeitig wurden die Opfer der pauschalen Lockdown-Maßnahmen sichtbarer. In dieser Lage entstand bei vielen Menschen der Eindruck, dass es keine verlässlichen Rechtspositionen gibt, mit denen ein Ende des Lockdowns erzwungen werden kann. Sie fühlen sich hilflos einer immer weiterlaufenden Maschine ausgesetzt.
Darum geht die Auseinandersetzung in diesem Jahr 2021: Wird aus der Corona-Krise eine prinzipielle Anfälligkeit der Gesellschaft? Wird aus einer einzelnen Schutzaufgabe ein generelles Angstthema, das alles andere überschattet? Wird der normative Horizont dieses Landes auf Dauer verdunkelt? Wird der Gesundheitsschutz zum neuen Meister in Deutschland? Oder gelingt es diesem Land, wieder in die Kontinuität seiner Verfassungsordnung zurückzufinden? Gelingt es, die ganze Spannweite der Aktivitäten, die ein modernes Land auszeichnet, wieder aufzumachen? Diese Aufgabe ist durch einzelne „Lockerungen“ in diesem Sommer nicht erledigt. Diese schaffen noch keine normative Spannweite und Sicherheit.
Legt man diesen Maßstab an, befindet sich das Bundesverfassungsgericht durchaus in einer dramatischen Situation. Das BVG kann viel verlieren, wenn es sich nur im Rahmen von einzelnen Zielvorgaben bewegt. Es kann viel gewinnen, wenn es begreift, dass jetzt das Grundgesetz als Ganzes wieder rehabilitiert werden muss. So stehen sich hier Dekonstruktion und Konstriktion gegenüber. Und das gilt auch für die anstehenden Wahlen, die über die Zusammensetzung des Parlaments für die nächste Legislaturperiode entscheiden. Die Autorität der Legislative kann schweren Schaden nehmen, wenn im anstehenden Wahlkampf nicht auf den Zweifel eingegangen wird, der sich in Deutschland festgesetzt hat. Für viele Bürger sind die normativen Grundlagen dieses Landes unsicher geworden. Deshalb wird es in der nächsten Legislaturperiode nicht um besonders hochgesteckte Ziele gehen (auch nicht um Spekulationen über eine drohende Diktatur), sondern um einen verlässlichen Schutz der Gesamtaktivität dieses Landes, der ohne eine erneuerte Bezugnahme auf das Grundgesetz nicht zu haben ist. Auch hier geht es um Konstruktion statt Dekonstruktion. Wird die politische Auseinandersetzung das Format haben, diesen Einsatz zu erkennen und ihm gerecht zu werden?

(erschienen am 13.Mai 2021 in meiner Kolumne bei „Tichys Einblick online“)